Mittwoch, 6. April 2016

Banlieue Blues: Der Film "Bande de Filles" von Céline Sciamma

2005 brannten die Vorstädte von Paris und gingen als Aufstände der Banlieues in die traurige Geschichte der Chancenlosigkeit und Verwahrlosung der dort lebenden Jugendlichen ein. Deutschland Radio Kultur  erinnert in einer Sendung vom Oktober 2015 an die Unruhen vor damals zehn Jahren.
"Le Chêne-Pointu" ("Spitze Eiche"), so heißt die größte Plattenbausiedlung in Clichy-sous-Bois: 1.500 Wohnungen, achttausend Menschen, mehr als einhundert Nationen. Hier haben Zyed und Bouna gelebt, die beiden Jungen, die am 27. Oktober 2005 auf der Flucht vor der Polizei ein Stromschlag trifft. Hier brannten die ersten Autos.
Karte der Pariser Aufstände im Oktober 2005.Grafik: Nécropotame, Lizenz FAL, wikimedia
Wo - so habe ich mich damals gefragt - waren die Mädchen und jungen Frauen dieser Aufstände? Waren sie nicht wütend? Oder schoben sie zu Hause Frust bei Haushalt und Kinderbetreuung - bei  ihren jüngeren Geschwistern in ihren überwiegend vaterlosen Familien oder ihren meist ungewollten eigenen Kindern?
Die Regiesseurin Céline Sciamma hat anderthalb Jahre mit vier jungen Frauen einer Pariser Banlieue verbracht, nachdem sie dort in einem Straßencasting - 'casting sauvage' -  nach den weiblichen Hauptrollen für ihren neuen Film “Mädchenbande“ (“Bande de Filles“) suchte, der im Oktober 2015 in die deutschen Kinos kam. Alle Rollen sind von Laien besetzt und sowohl der Habitus wie der Jargon dieser Jugendlichen sind also nicht gespielt, sondern authentisch. "Die Idee war, den Mädchen einen Platz in einer Umgebung zu geben, wo sie keinen haben", sagt die Regiesseurin zu ihrem Film.

Die FAZ schreibt in ihrer Besprechung zu diesem Film u.a.: "Die Gesichter der dunkelhäutigen Hauptfiguren so überzubelichten, dass man deren Konturen stets mühelos erkennen könnte, verweigert die Regisseurin bewusst." Dieser Satz bleibt ziemlich rätselhaft, denn die Gesichter sind je nach Situation ziemlich gut ausgeleuchtet und höchst individuell. Irgendwie erinnert das - völlig verquer ausgedrückt und auch noch als Stilmittel der Regiesseurin ausgegeben - an den Satz, man könne Schwarze nicht gut auseinander halten.
Der Auftakt des Films beginnt - etwas gewollt - mit Szenen eines American Football-Matches, demonstrativ hart, demonstrativ unmädchenhaft. Denn Gesichtsschutz und Trainingskleidung machen sie erst später als Mädchen kenntlich. Sie rennen sich um, springen aufeinander und machen machohafte “give me five“- Gesten wie Jungs. Dagegen trollen sie sich nach dem Match mit immer einsilbiger werdenden Gesprächen nach Hause, dort wo - vor allem für sie als Mädchen - der Spaß vorbei ist. Ihre Familien bestehen aus abgehauenen Vätern und sich in prekären Jobs abarbeitenden und deshalb zumeist ebenfalls abwesenden Müttern.

Marieme, die Hauptfigur von Bande de Filles, aus deren Perspektive diese Geschichte erzählt wird, hat wie viele auch noch mehrere Geschwister, zwei jüngere Schwestern und einen älteren Bruder, der - auch das ist typisch- das Familienoberhaupt gibt. Autoritär und brutal lässt er seinen eigenen Frust an den Schwestern aus, denen er moralische Verbote erteilt. So hat nur er seiner Meinung nach das Recht, abends noch im Viertel mit seinen Kumpels abzuhängen - ätzend genug, dass er sich wie viele seinesgleichen in seiner Familie ohne männliche Identitätsfigur in einer reinen Frauengesellschaft befindet. 
Marieme ist zum Zeitpunkt ihrer Aufnahme in die Mädchenbande gerade aus der Schule geflogen. Das abschließende Gespräch mit ihrer Lehrerin ist ein weiterer Einblick in die Schwierigkeit, einander zu verstehen. Hier zeigt sich die Qualität des Films, der keine einfachen Sündenböcke ausmacht. Die Verständnisfragen der Lehrerin, warum Marieme zum zweiten Mal hängen geblieben ist und deshalb die Schule verlassen muss, werden von dem Mädchen mangels Vertrauen und aus Scham über ihre tristen Vorstadtverhältnisse nicht beantwortet und so wird sie ihrer Lehrerin keinen Einblick in das gewähren, was prinzipiell für die Schüler dieser Herkunft in ihrer Klasse schief läuft. 
Zwei wesentliche Prinzipien des Zusammenhalts der Mädchenbande sind die Abgrenzung nach außen und die Riten der Selbstbestätigung nach innen. Gemeinsam ziehen sie bei ihren Besuchen in die Glitzermetropole Paris über andere Frauen her, fast ausschließlich über weiße, sozusagen 'indigene' Französinnen - immer über ihr Outfit - so wie sie sich auch selbst hauptsächlich über ihr Äußeres definieren. In Boutiquen klauen sie Klamotten, passen Schülerinnen vor Unterrichtsbeginn ab, um von ihnen Geld zu erpressen. Der andere Kitt zwischen ihnen ist die Lebenslust und die Zärtlichkeit füreinander. Mit der abgepressten Kohle mieten sie sich in einem Hotelzimmer ein und machen Modenschau mit den geklauten Sachen, tanzen selbstverliebt, beschenken sich, genießen ihre Freiheit in der männerfreie Zone. 
Marieme bezieht regelmäßig Prügel für jeden Abend, den sie nicht zu Hause ist und erst recht dafür, dass sie sich auf den besten Freund ihres Bruders einlässt, den sie offen begehrt. Frauen, die als sexuelle Wesen abseits vom Heiratsmodell in Erscheinung treten, haben ihre Ehre verloren, sind Huren. Und als Schulabbrecherin bleibt für ihre Mutter nur, ihr einen Job in derselben Putzkolonne zu vermitteln, in der auch sie selbst ihre Abende mit putzen verbringt.
Marieme verlässt sowohl ihre Mädchengruppe als auch ihre Familie. Die systemstabilisierende Gewalt von allen gegen alle wird sie ihrem Wunsch, die höhere Schule zu besuchen, nicht näher bringen – im Gegenteil. Ihr kurzes Intermezzo mit dem Dealer ihres Viertels, für den sie die verschiedensten Jobs übernimmt, verschaffen ihr zwar genügend Geld, um sich eine eigene Bude zu leisten und ungestört ihre Liebe zum besten Freund ihres Bruders auszuleben. Aber auch das hält sie nicht, weil auch der Dealer und seine Clique es nicht aus der Vorstadt heraus schaffen.
Die Sehnsucht nach ihrer Familie, vor allen zu ihrer jüngeren Schwester, lässt sie noch einmal zurückkehren – in ihr altes Viertel, wo sie jede Ecke kennt. Aber die bereits hart gewordene Stimme der Schwester durch die Sprechanlage lässt sie kein Wort hervorbringen. Die Bande sind zerrissen, sowohl ihrer Mädchenbande als auch die zu ihrer Familie - zu dieser zweifelhaften Nestwärme gibt es keinen Weg zurück. Trotz diesem Ende ist das kein düsterer Ausblick. Es scheint, als sei genau dies die Situation, die den wirklichen Sprung in ein anderes Leben provoziert und dem Willen, den man aufbringen muss, um daraus einen Neuanfang herauszuschlagen. Denn ein Zurück ohne die alten Fesseln gibt es nicht.


Alle Filmstills von Ina Zeuch


Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen